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8. April 2021

Die Nacht und die Krankheit. Ein Gastbeitrag von Sandra Markewitz

Über den Hügelkamm, genährt nur von Nesseln…

Friederike Mayröcker, Reise durch die Nacht

Die Nacht ist Traum, Trauma und Versprechen. Ihre Qualität entfaltet sich nicht im Erlebnis oder der Erfahrung allein, sondern stimmt mit dem überein, was eine Kultur uns zu sehen erlaubt: Was wir tun, fühlen und denken dürfen, wenn das Licht verlischt. Die Nacht hat zwei Pole, Heimat und Fremdheit. Zwischen diesen Polen ist unser Verhältnis zur Nacht begründet und wir suchen zu vergessen, dass den weiblich Genannten diese Sphäre nicht gehört, nicht gehören darf. Doch Anfang, Aufblende in einer anderen Zeit: Der deutschen Romantik. Hier, in der Feier von Sehnsucht, Liebe und Unendlichem um 1800 gehörte die Nacht denen, die von ihr träumen konnten, mehr: die sie anrufen konnten wie etwas Großes. Novalis, der Dichter (eigentlich: Friedrich von Hardenberg), hat der Nacht einen unauslöschlichen Platz in der poetischen Landkarte gegeben. Die Hymnen an die Nacht beschwören, was sie feiern: Eine nächtliche Zone, in der mehr gewusst wird als rationale Konstruktion der Welt, der Gedanken, des Denkens der Menschen über sich selbst. Hier hat mit der Nacht das Unbewusste seinen Platz eingenommen, aber es ist mehr als der spätere Terminus Freud‘scher Psychologie. Die Nacht ist noch nicht gedeutet als das, was es aufzuklären gelte. Sie strebt – durch die Imagination des Dichters belebt – einer Lebendigkeit zu, die sie als Gegengewicht denkt: Zu Aufklärung, dem Ideal der Messbarkeit, dem prägenden Programm Kants, das als Aufruf, sich des eigenen Verstandes zu bedienen, scheinbar nur dem Tag verpflichtet war. Die Nacht hat andere Worte: „Abwärts wend ich mich zu der heiligen, unaussprechlichen, geheimnißvollen Nacht. Fernab liegt die Welt – in eine tiefe Gruft versenkt – wüst und einsam ist ihre Stelle. In den Sayten der Brust weht tiefe Wehmuth. In Thautropfen will ich hinuntersinken und mit der Asche mich vermischen – Fernen der Erinnerung, Wünsche der Jugend, der Kindheit Träume, des ganzen langen Lebens kurze Freuden und vergebliche Hoffnungen kommen in grauen Kleidern, wie Abendnebel nach der Sonne Untergang.“ Novalis‘ Weg ist der in eine untere Zone, ein Traumreich, das gleichwohl in Vergleichen auf den Tag zu beziehen ist. Die Nacht ist das vernachlässigte Motiv der Kultur, da die Taghelle (bis hin zu Ulrichs tagheller Mystik in Musils Der Mann ohne Eigenschaften) das Element ist auf das sich die anschlussfähige kulturelle Geste bezieht. Das Anschließen ist zu unterbrechen, die Nacht zu stärken. Novalis sinkt hinunter in den verkannten Bereich, er sieht ihn, ist bereit ihn zu erkennen, auch um den Preis der Vermischung mit der Asche, dem, was von der scheinbar wachen Kultur übriggeblieben ist, wenn die Perspektive des Nächtlichen, „liebliche Sonne der Nacht“, eingenommen wird. Diese Sonne beglänzt nicht das Tun und Treiben der Eifrigen, Taghellen, der Arbeitenden des eingehegten Ich, sondern derer, deren Fahrt, eher ein Fallen, in ein Unten geht, das nicht ausbuchstabiert ist, in Reichweite und Nützlichkeit. Der Nutzen ist durch das freie Sehen ersetzt, das Bekenntnis zu Traum und Tiefe. Denn das Festhalten am Hellen der Vernunft hatte Gewaltcharakter: „Muß immer der Morgen wiederkommen? Endet nie des Irdischen Gewalt?“ Novalis verzweifelter Ausruf ist weitgefasst: Das Wort „Gewalt“ bedeutet hier auch „Macht“ und „Kraft“. Aber ist nicht im Nächtlichen eine eigene Kraft verborgen? „Ewig ist die Dauer des Schlafs“ (Novalis).

Wir wissen nicht, was der Schlaf vermag und doch ist auch er heilig, wie Silvia Bovenschen in Sarahs Gesetz betonte, die Worte ihrer Freundin Sarah Schumann wiedergebend, die vielleicht nicht zufällig Malerin war. Also nicht der Affekt gegen den Schlaf, der von der Arbeit abhalte. Wenn wir den Schlaf anders begreifen – nicht als funktionale Regenerationskraft im Dienste der Arbeit, sondern als Zustand, der auf seine Weise ausgezeichnet und anthropologisch bedeutsam ist – können wir auch die Nacht anders begreifen. Unsere Nacht ist die Nacht aller, die in ihr leben, aufleben und ruhen: „Nun weiß ich, wenn der letzte Morgen seyn wird – wenn das Licht nicht mehr die Nacht und die Liebe scheucht.“ Novalis‘ Nacht ist eine große Ruhe vor den Zumutungen des Tages, die keine sein müssten, würden wir sie anders denken. Es ist die Nacht, in der wahrhaft ausruhen darf, wer auch die Nacht ruhen lässt und sie nicht in Dienst nimmt. In diesem Sinne ist die Nacht das ewige Rätsel – aber eines, das sich vor uns verschlossen hat, weil wir es gerne im Rätselstand beließen, um falsche Vorstellungen von Effizienz und Rationalität der Nacht entgegenzustellen. Hätte man dies nicht getan, wie hätte die Nacht wirken können in Schlaf und Traum! In den Worten Novalis‘ klang an, was Walter Seitter in der Geschichte der Nacht zum Motto nimmt, mit Angela de Foligno, dass die Nacht auch eine Sonne sei. Hat man sich davon verabschiedet, das Tägliche in allen Formen – auch denen der Nacht – wiederfinden zu wollen, stellt sich die Sache anders dar: Erst dann kann das emanzipative Potential der Nacht gesehen werden – dass sie uns etwas gibt, das nicht vorgesehen war und deshalb in den alten Dichotomien, Zweiteilungen nicht vorkommt. Man muss nicht den Bestimmungen der Nacht in der Romantik ganz folgen; sichtbar wird in ihnen jedoch, dass wir in bestimmter Weise nie wacher sind als wenn wir schlafen. Im Schlaf der Vernunft werden nicht nur Ungeheuer, sondern etwas Rettendes geboren. Dies ist das Wachen des Nächtlichen, dass der umnachtete Zustand etwas verspricht, was in der gegenwärtigen kulturellen Ordnung nicht gehalten werden kann: Von der Vernunft auch frei zu sein und dafür nicht zahlen zu müssen, glückhaft hinuntersteigen zu können, sich dem Schlaf wie ein Kind anheimgeben zu können und den hier genommenen Fährten und Wegen zu vertrauen. Nicht die Sonne strahlt hier, sondern das Lunarische (nicht als ferner Trabant, sondern Ort der Erfahrung jener Empfindungen, die zu unterdrücken guter Ton der Kultur war und ist).

Das Nächtliche ist ein Versprechen, das auf Einlösung wartet, und es bedarf nur am Rande des Dichters, wir haben erfahren, was kommen will zu uns in der Nacht, wenn die Bande von Sitte und Herkommen gelockert sind. In diesem Herkommen haben wir uns nicht gefunden. Das Weibliche galt lange als das Nächtliche, das dem hellen Vernunftdiskurs fernsteht. Und doch kannte schon die Antike – heller Anfang des Denkens, der andere Anfänge ins Dunkel setzte – die Hochschätzung von Schlaf und dem Fall in die Bewusstlosigkeit als etwas familiären Zuschnitts: Bei Hesiod ist der Schlaf ein Kind der Nacht. Die Mythen hatten den Vorteil, nicht beschneiden zu müssen, was der Vernunft widerstrebte, wie der Tod in der Antike der Bruder des Schafes war (ein leichter Genius). Denn angesichts der Nacht kannte man keine Furcht. Diese hat nicht, wer auf der Welt fremd ist, wer die Taghelle nur unter Vorbehalt betrachten kann und dem Licht kaum glaubt. So ist die Verbindung von Nacht zu Krankheit: In der westlichen Kultur – nach dem suchenden Einverständnis der Antike, bevor strengere Rigorismen das Wissen einhegten – war das Kranke das Dunkle, da eine Logik gebrochen wurde, die als Gesundheit (Kohärenz) erschien. In der Nacht konnte passieren, was kaum denkbar war, nicht nur körperliche Ekstasis oder der Versuch, diese zu erreichen, sondern die Nachtgedanken der Unterworfenen, die auf Ideen kamen, die der Tag verbot. Wer krank ist, nicht nur organisch, sondern psychisch, auf ein Begehren der Seele hinweisend, das nicht gestillt wurde, ist in der Dunkelheit der anderen Zone, die beunruhigend darauf hinweist, dass unsere taghellen Trostformen nicht genügen. Wenn das Leiden der Seele eine Nacht ist, dann können Wege aus ihm herausführen, von denen der Tag nichts ahnt, die zu einer tieferen, endlich verstandenen Nacht führen, die nicht zurückhält, was sie geben kann und es nicht als Interim, als Zwischenspiel denkt, sondern als etwas, das bleiben kann, solange eine Lebensspanne währt. Ich nehme, auf Verdacht, das Buch von Gertrud Kolmar zur Hand, Weibliches Bildnis, ich weiß, sie muss etwas zur Nacht geschrieben haben, ich finde: „In den Tag/Trag ich sorglich, schwarzen Sammet drüber,/Meinen großgeaugten Traum herüber/Aus der Nacht.“ Das Gedicht Aus der Nacht gibt eine Weisung, wie mit dem Verhältnis von Nacht und Tag zu verfahren sei: Der Traum der Nacht ist, geschützt durch den Stoff, hinüberzutragen in den Tag. Das nächtliche Wissen (unbedingt und berührend) kann dem Tag etwas sagen, nicht umgekehrt. Nicht der Tag hat Herrschaft über die Nacht, sondern sie lehrt, was täglich zu tun sei. Dichterischer Sinn ist nächtlicher Sinn. Das ist nocturnal unrest – zu sehen, was die Nacht dem Tag geben kann. Der Kranke nun braucht dies nicht zu lernen. Er hat sich vom Tag und seinen Forderungen entfernt und hofft auf Heilung, die das Wissen der Nacht überschreibt, das ihm in der Krankheit zufiel. Darin liegt die wahre Verrücktheit. Der und die Kranke sollen das Wissen vergessen, das daraus entstand, dass sie aus einem Grund krank wurden, dass die Tagwelt nicht genug ist, dass sie das ist, was derjenige, der eine Ahnung von Gesundheit jenseits der Ideologie hat, flieht. Die Nacht ist nicht, was man fliehen muss, der schwarze Samt versteht sich auch auf den Tag – wenn ein anderer, von der Nacht und ihren Wundern inspirierter Blick auf die Zone jenseits des Schlafs getan wird.

Den Traum in den Tag zu nehmen heißt auch, dass sich beide Zustände, der tägliche und der nächtliche, durchdringen. Was aber ist genauer das Nächtliche der Krankheit? Krankheit weicht vom wie selbstverständlich gesetzten Bild der Gesundheit ab, in der das Leben zu bestehen sei. Dass die Ordnungen des Lebens und der Kultur oft solche sind, die angetan sind, Gesundheit zu gefährden, wird dabei nur selten mitgedacht – nicht als Klage über Beschäftigung und Belastung, wo es um die Menge von Verpflichtungen geht, sondern grundsätzlich: So, dass deutlich wird, dass unsere Beschäftigungen, die den Tag füllen, nicht unsere eigenen Vorstellungen sind. Gesundheit, die als bekanntes Konzept gilt, ist eine Zone der Fremdheit. Schwer zu erreichen, aber als Richtschnur hochgehalten. Die Krankheit dagegen ist explizite Fremdheit, wie die Nacht als fremde Gegend gedacht ist, die man wie Kolmar oder Novalis im Gedicht anrufen, ja sogar rühmen kann. Das Bekannte wird selten gerühmt. Gesundheit ist auch das, was in einer Kultur gerühmt wird, was als Einverständnis gelesen werden kann, dass sie oft fehlt. Die Krankheit nun, besonders die seelische, die das eher Plausible der organischen physischen Krankheit durchschneidet und sagt: So wie ihr kann ich nicht leben (und ihr könnt es eigentlich auch nicht), ist ein Zeichen des Widerständigen. Auch darum wurde die seelische Erkrankung mit dem Tabu belegt: Sie zeigt, dass die Einteilungen und Hierarchien der Kultur oft nicht funktionieren, dass der zugewiesene Platz nicht eingenommen werden kann. Potenziert wird die widerständige Qualität, wenn Frauen – solche, die als Frauen gesehen werden – krank werden. Man möchte sagen, dass die kranke Frau eine Tautologie ist, denn als Frauen Gesehene sind im Patriarchat bereits krank, auf einen minderen Status verwiesen, strukturell nicht bevorzugt. Wenn die nicht Bevorzugten krank werden, ist es etwas, das ihrem gegebenen Status in der Kultur entspricht. Die Krankheit, insbesondere der Seele, zeigt aber etwas, das lieber (patriarchaler Gewohnheit nach) im Dunkeln bleiben sollte, das Leiden soll nicht allzu sichtbar werden, es soll gleichsam in der Zone der Nacht verschwinden. Die kranke Frau zeigt – wo seelische Symptome Aufmerksamkeit verlangen – was auch sonst ihre Bedingung in der patriarchalen Ordnung, aber erst auf den zweiten Blick sichtbar ist. Jetzt ist es sichtbar. Krankheit ist Sichtbarmachung einer gesellschaftlichen Ordnung wider deren Verteidiger. Shulamith Firestone sagte in The Dialectic of Sex, die Spaltung in geschlechtsspezifsche Klassen sei so tief verwurzelt, dass sie nicht mehr zu erkennen sei. In diesem Sinne bekämpft die kranke Frau eine Unkenntlichkeit: Seht! Ich genüge eurer Ordnung nicht. Hedwig Dohm betonte, die Gesetze seien „gegen die Frau, weil ohne sie.“ Ebenso sind die Gewohnheiten des Tages gegen die Frau, weil ohne sie. Sie, die weiblich Gelesenen, spielen mit, aber kommen in den kulturellen Spielen nur verzerrt vor.

Was kann getan werden? Die Nacht ist anders zu begreifen. Ihre Unruhe ist, was helfen kann, das Versprechen des Tages auf Geltung und Vernunft, ein einträgliches Leben zu sichern und zugleich zu irritieren. Nicht im Sinne des Geldes und der Symbole, sondern bezogen auf Empfindungen, die sich zeigen dürfen. Krankheit als Sichtbarmachung der Fehler der gegebenen Ordnung weist auf die Nacht als Heilmittel, das mehr ist als die Bekämpfung von Symptomen. Vieles ist mit ihr gemeint: Das erwiderte Gefühl, das rote Haar der schönen Freundin, der Traum, am Meer zu sein oder in Prag oder in Budapest. Mit dem, den ich noch nicht erkannt habe, aber erkennen werde. So sind die Kranken in die Nacht nicht festzustellen, sondern können die Zuschreibung Krankheit = Nächtlichkeit = von der Gesellschaft nicht Zugelassenes, Verborgenes umdeuten. Die Widerständigkeit der Nacht besteht darin, Träume zu schaffen, die den Bereich der Nacht verlassen. Nicht im plumpen Sinne einer Anwendung. Sondern als Zulassen dessen, was – mit Kolmar im schwarzen Samt – ohnehin zum Tag drängt, weil nicht einzusehen ist, dass das Schöne und Lockende der Nacht Dienerin der Ideologie sein soll. Die Nacht wird nicht in bloßer Umkehrung einfach zum Tag gemacht, sondern das Lunarische bejaht als etwas, das uns sein lässt. Das Unbewusste, das hier aufsteigt, sind die Wünsche, die wir vergessen mussten. Erinnere Dich, sagt die Nacht und das ist nicht auf sie begrenzt. Diese Erinnerungen, die die Nacht bringt, sollen ein Tag sein, auch ein Tag, wie Feiertag und Alltag sich ohne Furcht durchdringen können. Es hat immer solche gegeben, die sich der Nacht anheimgaben. Dichterinnen meist, die wussten, was es heißt, fremd zu sein, Philosophinnen, die Geltung und Unglück nicht zusammendenken wollten. Wer sich in dieser Kultur der Nacht zuneigt, verneint, was vielen etwas Wert sein soll. Die Nacht ist nicht nur Versprechen, sondern eine andere Art, die Welt zu sehen, eine nicht ausgeschöpfte Sehgewohnheit. Jene kamen zur Nacht, die der Tag nicht aufnahm. Marina Zwetajewa schreibt: „Den diesjährigen Frühling sah ich schwarz, in Dunkelheit, eher hörte ich ihn, als ihn zu sehen – im Rauschen eines verströmenden Quells, an einem späten Abend, als schon nichts mehr zu sehen war.“ Gerade hier zeigen sich Dinge, Sachverhalte, Gepflogenheiten. Die Bande lockern sich, des Tages, der beruflichen Anforderung, der Erwartung, als Paar aufzutreten. Hier bleibt der Frühling, dunkel, der ein Frühling der Wahrnehmung ist: ein neuer Anfang kann begonnen werden, eine neue Sicht. Die Krankheit hat mit den Nachtliebenden gemein, dass sie ein Frühling der Wahrnehmung sein kann, etwas bricht los, wächst, webt, kommt zurande mit den Wünschen im Innern, den nie gesagten. Was tut es, dass es nicht immer originelle Wünsche sind, so auch keine aufgezwungenen mehr. Im Frühling der Wahrnehmung ist alles möglich. Damit verbunden ist die Einsicht, dass die Krankheit nicht nur das Ende von etwas Altem ist, sondern der Anfang des Neuen. Wer möchte an diesem Anfang teilhaben?

Zunächst heißt es, dass nicht alle Krankheit geheilt werden kann, der Zweifel wurde mit ihr gesät, an den Einteilungen der Welt und er hält an, erinnert, das Aufleuchtende zu bewahren, das, was sichtbar wird, wenn die Kranke das Einverständnis verweigert, mittelbar, ihr Körper tut es für sie, tut ihr diesen Gefallen, rauschend, etwas ahnend von dem, was sie vergessen hatte. Krankheit als Nacht der Gesundheit, der scheinbaren Vernunft ist Erinnerung. Ist Novalis‘ Nacht noch Verklärung, führt die Nacht der Krankheit zum Sehen. Sehenkönnen und Sehenwollen sind zweierlei. Ertragen, dass plötzlich erfüllbar wird, was man wünschte, ist – die Scheu vor dem Schönen – eine dauernde Aufgabe. Die Wendung zur Nacht erweitert, was eine Kultur von sich denken kann, was in einer Kultur über diese gedacht werden kann. Das ist Erkenntnis, die die Elegie kennt und doch nicht zu elegisch werden darf – Bloch sprach in den Spuren vom Wiedersehen ohne Anschluss. Die Träume, das Ersehnte sind zu treffen, auch tagesförmig, aber nicht im Sinne des gänzlichen Verschwindens im nun Zugänglichen der Nacht. Soll die Krankheit als Mahnung des Tages dauern, der alles bestimmt zu haben glaubte? Ja und Nein. Ja, weil die Krankheitssymptome sprechen, man kann sie nicht überhören, sie weisen auf einen Rest von Wahrheit. Nein, weil die Krankheit geheilt werden darf, ihre Symptom-Funktion ist nicht ewig, eine, romantisch gesagt, höhere Art von Gesundheit entsteht, die den Schmerz und das Scheitern einrechnet und nicht als pathologisch brandmarkt. Erst dann, wenn die Krankheit der Nacht zurückgegeben ist und die Nacht der Krankheit – als Entwicklungsraum, nicht als Schlechtmachen dessen, was nicht gesund und tagesförmig ist – kann etwas Neues beginnen.

Die Frau und die Nacht sind nicht mehr im objektifizierenden Zwang gemeinsam unterdrückt von patriarchaler Struktur, sondern die Nacht gehört nun allen, die sie sehen können und die in ihr sehen können. Dass Sehenkönnen und Sehenwollen zusammenfallen, ist das Versprechen der Nacht, im Gegensatz zu den scheinbar gesunden Verordnungen der Tagwelt. Das reine Licht des geistigen Ideals, so Wittgenstein in einem von Ilse Somavilla edierten Brieffragment, scheint durch gefärbte Gläser der Kultur. Wenn wir dem Phantasma der Reinheit nicht mehr folgen wollen, kann die Nacht den Tag, seine Helle, sein Leuchten, nicht mehr beflecken. Diese Idee stammt aus einer Zeit, als Profanes, Weltliches und Heiliges, Himmlisches getrennt gehalten wurden, um Glaubenssysteme nicht zu gefährden. Wir haben das Ansehen der Nacht. Dass wir es nicht verlieren mögen, zeigt, dass auf eine veränderte Sehweise zu hoffen ist. Die Nacht ist nicht krank, der Tag nicht gesund. Alles sind Übergangsformen menschlicher Sehgewohnheiten, die sich verändern können. Der Schmerz, der in der Nacht sichtbar wird, aufbricht in Weinen und Gedanken, die sich nicht stoppen lassen, geht am Tag weiter und trägt zu der Erkenntnis bei, dass unsere Zeit nicht zwei Formen der Erscheinung kennt, sondern eine Resonanz des Fühlens und Denkens. Dann kann die Zumutung, als weiblich Gesehenes in abwertender Absicht mit der Nacht zu verbinden, enden. Die Nacht ist nicht zu etwas zuzurechnen oder da, um etwas zu illustrieren, sondern Ort von Ereignissen. Liebe, Lust, Gedanken, höherer Klarheit, auch des Abbaus der Tagesschranken der Seele. Hier kann geschehen, was Novalis sagte, dass des Irdischen Gewalt zurückweicht und es etwas Neues gibt, das leben kann und übergeht in neue Vorstellungen des Tages. Was diese zeigen, ist, dass der Tag nie gewesen war, was er vorgab zu sein, sondern Unordnung, Leid und Wirrnis hier erst recht charakteristisch waren. Dass das scheinbar Gesunde krank war und der Tag nächtliche Flecken hatte, die er verleugnete, wird nun deutlich. Es sind Exilierte, die dies zuerst erkennen konnten, eine Kultur ganz ernst nehmend, die nicht genau beim Wort genommen werden wollte, die wusste, dass der Tag nicht nur gut ist und dies nicht zugab. Wer zu sehr zuhause ist, in dem, was die Kultur sehen lassen möchte, verkennt das Glück der Nacht und dass die Krankheit auf etwas hinweist, das dem Blick der Kultur entging. „Niemals vergesse ich, dass ich Gast bin“, so Marina Zwetajewa. „Die Erde verzeiht mir das nicht.“

Sandra Markewitz

Literaturhinweise:

Ernst Bloch, Spuren, Frankfurt am Main 1969.

Silvia Bovenschen, Sarahs Gesetz, Frankfurt am Main 2015.

Shulamith Firestone, Frauenbefreiung und sexuelle Revolution, aus dem Amerikanischen von Gesine Strempel-Frohner, Frankfurt am Main 1987.

Gertrud Kolmar, Weibliches Bildnis. Gedichte, München 1987.

Friederike Mayröcker, Reise durch die Nacht, Frankfurt am Main 1984.

Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Erstes und zweites Buch hrsg. von Adolf Frisé, Reinbek bei Hamburg 1988.

Novalis, Gedichte, Frankfurt am Main 1987.

Walter Seitter, Geschichte der Nacht, Berlin und Bodenheim bei Mainz 1999.

Ilse Somavilla (Hg.), Ludwig Wittgenstein, Licht und Schatten. Ein nächtliches (Traum-)Erlebnis und ein Brief-Fragment, Innsbruck-Wien 2004.

Marina Zwetajewa, Unsere Zeit ist die Kürze. Unveröffentlichte Schreibhefte, hrsg. und aus dem Russischen und Französischen übersetzt von Felix Philipp Ingold, Berlin 2017.