BLOG << Den Narrativ ändern – Ein kleiner Bericht vom Workshop „Documenting Nocturnal Flâneuserie“ von Anna Benner und Zoë Aiano

14. Februar 2021

Stromkasten mit vielen Graffiti Tags.Die erleuchtete Frankfurter Skyline bei Nacht, die sich im Main spiegeln. Eine Person überquert eine Straße bei Nacht.

In unseren zweitägigen Workshops „Documenting Nocturnal Flâneusrie“ von Anna Benner und Zoë Aiano am 16.-17. Januar und 18.-19. Januar haben wir genau das versucht, was der Titel ankündigt: jede der Teilnehmer:innen zog für sich in die Nacht, um ihr nächtliches Flanieren mit Film- und Sprachaufnehmen sowie wie Fotos zu dokumentieren. Getrieben von der Frage, was das nächtliche Flanieren für jede:n individuell aber auch kollektiv als weiblich identifizierte und nicht-binäre Menschen bedeutet. Kann es so etwas wie die Flaneuse geben? In diesem Blogeintrag reflektieren wir die Diskussionen und geben euch zusätzliches Material an die Hand, um ihre Stadt mit visuellen Mitteln zu entdecken.

Aufgrund der Corona-Pandemie haben wir uns für den Workshop an beiden Tagen digital getroffen. Die Nacht dazwischen galt uns als Experimentier-Raum. Nach einem ersten Kennenlernen und Austauschen von Ideen und Erfahrungen entließen die Künstlerinnen Anna Benner und Zoë Aiano die Teilnehmer:innen mit einigen Aufgaben los, um zu flexen, zu flanieren, herumzulaufen an so unterschiedlichen Orten wie Frankfurt, Wien, Berlin… Am folgenden Tag trafen wir uns digital wieder, sprachen über unsere Erfahrungen.

Download instructions for documenting nocturnal flaneuserie (English) (PDF)

Download suggestions for reading and listening about the flaneuse at night (English) (PDF)

„Ich muss etwas Aufregendes einfangen!“

Sich durch die nächtliche Stadt bewegen, sich in ihr treiben lassen, ist eng mit der romantisierten Figur des Flaneurs verbunden. Einem Mann, der alleine durch die Straßen geht, sich vielleicht einsam fühlt, der das bunte Treiben, die nächtlichen (Sex-)Arbeiter:innen, das Leben beobachtet, aber nicht zurück angesehen wird – einfach weil er es kann, weil er nicht auffällt. Er ist sich sicher, die Stadt gehört ihm, seine ganze Körperhaltung drückt dieses Gefühl aus: Die Stadt wird ebenso wie ihre Menschen zu einem Objekt, das er sich aneignen kann. Das Bild, das wir von dem Flaneur kennen, hat er selbst geschrieben; er der unabhängige Flaneur, der Boheme, der Schriftsteller – er entscheidet, was Wert hat von ihm erzählt zu werden und hat damit auch das Bild der Städte wie Paris oder Berlin sowie ihren (nächtlichen) Bewohner:innen entscheidend geprägt.

Mehr über das Weißsein des Flaneurs und was es bedeutet, als Schwarzer aus der Arbeiterklasse in europäischen Metropolen unterwegs zu sein, lesen Sie in Johnny Pitts wunderbarem zeitgenössischen Reisetagebuch, das mit viel Wissen über (Schwarzes) Europa, Diaspora, Literatur, Rassismus, Politik des Kalten Krieges, Schwarzen Feminismus und vieles mehr verwoben ist: „Afropäisch“, deutsche Ausgabe erschienen in Suhrkamp (wenn du hier klickst, kannst du mehr zu dem Buch erfahren; englische Ausgabe „Afropean“).

Aber was bedeutet das für uns, die wir in diesem Workshop auf der Suche sind? Was bedeutet es für uns als Frauen und non-binäre Menschen, als nicht cis-männlich gelesene Körper durch die Nacht zu laufen? Einige Teilnehmer:innen erzählen, dass es im Rahmen des Workshops das erste Mal seit der Corona-Pandemie sein wird, dass sie sich Nachts durch die Stadt bewegen – mit der Versprechen des Flaneurs, etwas anderes oder Aufregendes zu erleben, im Gepäck.

Zurück am nächsten Abend berichtet eine Teilnehmerin ihrer Enttäuschung und Wut, dass sich dieses Versprechen für sie nicht erfüllt hat. Es seien widersprüchliche Gefühle gewesen: zwischen dem Wunsch, das zu finden, was dem romantisiertem Bild des „besonderen“ Ortes entspricht, und gleichzeitig sehe in ihren Augen „alles scheiße“ aus. Sie sagt: „Ich hatte zwei Gefühle gegenüber allem, was ich gefilmt habe: es passt nicht zu der Idee und ich mag das, aber vielleicht habe ich auch ein Verlangen nach dieser Art von Idee, die die Realität repräsentiert – das Leben um mich herum und ich selbst, wie ich durch dieses Leben gehe, und das ist wirklich nicht da.“

Hörtipp: Fotografin Rut Blees Luxemburg spricht darüber, wie sie versucht die vergessenen und unscheinbaren Orte einzufangen (folge diesem Link, um eine Auswahl von Rut Blees Luxemburgs Nacht-Fotos zu sehen)

Wir sprechen darüber, dass für uns das nächtliche Gehen häufig oft auf das Erreichen eines bestimmten Ziels und noch mehr auf unser ortsgebundenes soziales Leben beschränkt ist – durch die geschlossenen Bars, Kneipen und Clubs bleibt die Nacht nun häufig menschenleer. Aber trotzdem, sagt eine Teilnehmerin, sei für sie das nächtliche alleine Herumschweifen, ein Ort der Sehnsucht. In beleuchtete Fenster schauen und sich nach Gemütlichkeit sehnen, die sie sich dort vorstelle, oder – vor Corona – die Leute, die aus dem Club kommen, sehen und sich nach dem zügellosen Lebensstil sehen, den sie in den Leuten zu erkennen glaubt. „Das macht mich auf eine bestimmte Art traurig.“ Ja, vielleicht finden wir manchmal sogar melancholische Freude an dieser Traurigkeit?

Andere erinnern sich, dass sie die Einsamkeit der corona-bedingten leeren Straßen, die an jenen Abenden verschneit waren, auch genossen haben. Diese Orte, die über Tag meist belebt sind, sich angefühlt haben, als wären sie nur für sie da. Es bedeutete auch weniger Catcalling. Weniger Hemmungen, vielleicht. Eine andere Erfahrung im Gegensatz zu anderen Nächten, die gefüllt waren mit Catcalls, ungebetenen Annäherungen, Arschgrabschen, festgehaltenen Schlüsseln und Pfeffersprays, Gewalt. Stattdessen: Eine einsame Tänzerin im weißen Kleid, die mit Kopfhörern am Fluss tanzt – ein Vorstellung nur für die Flaneuse, die einfach mittanzt.

„Warum habe ich weniger Angst, wenn ich nicht alleine gehe?“

In den Instruktionen gaben Anna und Zoë, die Aufgabe alleine in den Park zu gehen. Die meisten Teilnehmerinnen sagten, sie hätten es nicht alleine gemacht. Nur wenn sie jemand dabei hatten, fühlten sie sich sicher genug, in den Park zu gehen. Warum ist das so? Warum fühlen wir uns so viel sicherer, wenn wir nicht alleine sind? Können wir als Flaneuse nur alleine unterwegs sein? Was ist mit Müttern mit Kind? Was ist, wenn ich einen Hund dabei habe? Was, wenn ich telefoniere? Hält uns das eigentlich davon ab, die Stadt „richtig“ zu erleben? Oder ist diese Art von feierlicher Einsamkeit nur das Phantasma des Flaneurs, das ihn von dem isoliert, was es bedeutet, tatsächlich an dem Ort zu leben? Die einsame Figur des Flaneurs ist unmöglich in Beziehungen zu denken – er bewegt sich „frei“ durch die Stadt und ohne Verantwortung für irgendwas oder irgendwen. Vielleicht ist die Flaneuse dagegen jemand, die eingebunden ist in Beziehung, die Verantwortung trägt und Fürsorge gibt – was vielleicht auch für sie Sicherheit birgt, weil sie weiß, dass sie nicht alleine ist. Die Flaneuse erlebt eine Stadt, die keine abstrakte Idee ist, sondern eine gelebte Realität, die mit all ihren Geschichten, Biografien, Einschränkungen, Beziehungen und Freuden daher kommt.

Trotzdem ist Angst eine ständige und ambivalente Wegbegleiterin vieler Teilnehmerinnen. Eine berichtet, wie sie in Panik geriet, nachdem sich ihr ein einsamer Mann näherte. Erst Sekunden später erkennt sie, dass es ein Pfandflaschensammler ist und fragt entsetzt: „Welche Art von Ängsten projiziere ich?“ Viele von uns, die weiße Frauen sind, kriegen bereits früh erzählt, dass es Nachts nicht sicher ist und wir vor „fremden“ Männern fürchten müssen (in englischen Sprachraum häufig vermittelt durch den Slogan „Stranger Danger“, übersetzt so viel wie „Der Fremde ist gefährlich“). Dieses Narrativ des Fremden ist – so zeigen unter anderem George Yency (hier geht es zum englischen Artikel über Gehen und den weißen Blick) und Sara Ahmed (mit diesem Link geht es zum englischen Blogeintrag über Making Stragners) auf – stark mit rassistischen und klassistischen Narrativen verwoben.

Folge dem Link zum Blog-Beitrag „Wovor haben wir Angst? Der „Fremde“ als rassistische und klassistische Projektion.

„Ich hoffe wirklich, dass die Flaneuse oder die radikale Flaneuserie ein Weg sein könnte, nicht nur uns selbst zu ermächtigen, hinauszugehen, sondern auch das Narrativ zu verändern, wo wir gefährdet sind oder warum wir gefährdet sind.“

Workshop-Teilnehmerin

Es könne dabei helfen, den Fokus zu verlegen und ihn intersektional zu schärfen, welche Körper in der Dunkelheit gefährdet sind und warum. Wenn wir darüber nachdenken, wer oder was eine Flaneuse ist oder was sie kann, dann können wir das nicht, ohne sämtliche gesellschaftliche Machtverhältnisse mitzudenken.

„Kein Ziel, aber einen Grund haben“ – nächtliche Flâneuserie filmisch festhalten

Die Kamera in unserer Hand verändert die Wahrnehmung unseres Flanieren. Ohne dass die Kamera aufnimmt, kann sie unseren Blick lenken und ihn auf die Suche nach dem Aufregenden und Außergewöhnlichen schicken. Wir sprechen darüber, wie es uns mit dem Filmen ging. Die Kamera gebe ihr einen Grund ziellos zu sein, was sie normalerweise nie sei – vor allem nicht nachts, sagt eine Teilnehmerin. Eine andere Teilnehmerin berichtet, dass sie mit und durch die Kamera weniger Angst hatte, alleine unterwegs zu sein: „Ich hatte eine Distanz zwischen mir und der Szene und gleichzeitig war ich in ihr. Ich empfand die Kamera als ein ermächtigendes Objekt. Ich habe aktiv Besitz von der Nacht ergriffen.“

Wir reden auch über den Spaß, die das Filmen machen kann, über die absurden Situationen, die entstanden sind. Eine filmende Person auf der anderen Seite ganz vertraut grüßen, um peinlich berührt festzustellen, dass sie gar keine Teilnehmer:in des Workshop ist. Absurde Schaufenster in der eignen Nachbarschaft entdecken, an schon hundert Mal unbeachtet vorbei gelaufen sind.

Ein nächtlicher Spaziergang kann „belebend“ wirken, uns helfen „unseren Körper zu spüren“ oder wir können uns einfach frei fühlen.

Documenting Nocturnal Flaneuserie auf dem Festival

Aus den aufgenommen Filmaufnahmen, Fotos und Memos sowie aus unseren Online-Gesprächen machen die Filmemacherinnen Anna Benner und Zoë Aiano einen dokumentarischen animierten Kurzfilm, der zum ersten Mal auf dem Festival Nocturnal Unrest gezeigt wird, das im Mai 2021 im Künstler:innenhaus Mousonturm und online stattfinden wird.

Künstlerinnen:

Anna Benner ist eine Künstlerin und Filmemacherin, mit den Arbeitsschwerpunkten in Animation, Zeichnung und Installationen. Sie studierte Illustration und Filmästhetik in London und Oxford. Seit 2014 lebt und arbeitet sie in Berlin, wo sie ihre Galerie graumalerei eröffnete, die sich auf zeitgenössische Illustration konzentriert und als empowernder Raum für Künstler:innen dienen soll, ihre eigene Arbeit voranzutreiben und in einem sicheren Raum zu erkunden. Ihr Hauptausdrucksmittel ist die digitale handgezeichnete Rotoskop-Animation. In ihrer Arbeit erforscht sie gerne die menschliche Psychologie und Emotionen, manchmal in ihrem gebrochenen Zustand, aber auch immer mit einer Portion Humor. Ihre Kunstwerke wurden in Berlin, London und Paris ausgestellt und ihre animierten Kurzfilme liefen auf Festivals weltweit. Folge diesem Link, um mehr über Annas Arbeit zu lernen oder folge ihr auf Instagram: @annabennerstudio.

Eluned Zoë Aiano ist Filmemacherin, Video-Editorin und Übersetzerin mit Fokus auf Mittel- und Osteuropa. Ihr Interessengebiet ist die visuelle Ethnographie an der Grenze zwischen Dokumentation und Kunst, sozialer Praxis und Experiment. Derzeit arbeitet sie zusammen mit den anderen Mitgliedern von Wild Pear Arts an Flotacija, ihrem ersten Dokumentarspielfilm. Wild Pear/Divlja Kruška ist ein Team von vier Frauen mit dem gemeinsamen Ziel, mit einem Fokus auf die Balkanregion, unterrepräsentierte Perspektiven künstlerisch zu visualisieren (klicke hier, um mehr über Wild Pear zu erfahren). Sie ist auch eine regelmäßige Mitarbeiterin des East European Film Bulletin (klicke hier um mehr über das Bulletin zu lesen).
Klicke hier, um mehr über Zoës Arbeit zu erfahren.

Wollt ihr einen Eindruck bekommen:

Das gemeinsames Projekt „All her dying lovers“ der beiden, über eine urbane Legende einer Nazi-mordenden Krankenschwester in Tschescheslovakai zu Zeiten des Weltkriegs, könnt ihr hier auf der Seite der New York Times anschauen (Inhalts-Hinweise: Vergewaltigung, sexuell-übertragbare Krankheiten, Tod).

New York Times Website, auf der der Kurzfilm All her dying Lovers abspielbar ist.